Ein Reh hat mir sein Leben geschenkt
- Klaus-Michael Jetter
- 27. Nov. 2023
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Dez. 2024
Ein Reh ist mir ins Auto gelaufen.
Ich bin mit ca. 80 km/h eine Rechtskurve leicht bergauf gefahren, als mir ein Reh, für mich nicht sichtbar, links in meinen Kotflügel mit einem dumpfen Rumms reinrannte. Ich sah noch seinen Kopf, wie er sich verbog.
Das Reh muss gleich tot gewesen sein. Denn kurze Zeit später, nachdem ich meinen Wagen zum Halten gebracht hatte, war ich bei dem Reh. Es lag friedlich, mit offenen Augen, in einer Mulde am Straßenrand.
Es lebte nicht mehr! Aber sein Tod, vor allen Dingen sein plötzlich unerwarteter Tod, machte mir wieder einmal mehr schlagartig klar, wie schnell das Leben vorbei sein kann.

Während ich auf die Polizei zur Unfallaufnahme wartete und während der Unfallaufnahme spürte ich Glück in mir.
Mein zerbeulter Kotflügel, die vielen Formalitäten, die auf mich zukommen würden, der Ärger über den Zeitaufwand, welchen ich wegen der Reparatur aufbringen muss, die Wertminderung meines Neuwagens, waren plötzlich Nebensache.
Der Tod dieses unschuldigen Tieres brachte mir von jetzt auf nachher ein Stück unmittelbares Lebensgefühl, welches unbezahlbar ist.
Als seelisch zutiefst verletzter Mensch lebe ich, gewollt und ungewollt, immer in einem Wattebausch, weil die eiskalte, zutiefst verletzende Realität nicht lebenswert wäre.
Der Tod eines unschuldigen Tieres nimmt mich dann für kurze Zeit mit in die neutrale Realität des Lebens, welche so schön ist, dass es dafür keine Worte und Bilder gibt. Das ist das Sein und nicht der Schein des Seins!
....und was hat das mit Traumabearbeitung zu tun?
Seit 5 Jahren bin ich mir bewusst, dass ich seit meiner Zeugung traumatisiert bin. Ich wurde in Gedanken, durch Worte und Handlungen verletzt und hatte keine Chance, mich auch nur annähernd normal zu entwickeln. Deshalb habe ich mich in einen Kokon zurückgezogen, schon bevor ich geboren wurde. Dieser Kokon besteht heute - siebzig Jahre später - immer noch.
Aber die Hülle bekommt Risse. Das liegt nicht am Alter, sondern daran, dass ich mich nicht aufgegeben habe.
Ich mache täglich Imaginationsübungen, initiiert durch Luise Reddemann, ausgeformt durch meine Kreativität. Die Übungen helfen immer öfter, immer länger und immer tiefer, trotz Trauma ein erfüllteres Leben zu leben. Ich lese Bücher über Existenzielles, damit ich besser verstehe, warum ich so bin, wie ich bin, und warum ich das getan habe, was ich getan habe.

Ich fange an zu erfühlen, dass es so etwas wie eine Seele doch gibt. Dass diese Seele mich nicht aufgegeben hat, obwohl ihr, meinetwegen, so übel mit gespielt wurde und immer noch wird.
Klaus-Michael Jetter
Im Winter 2024
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